Wohnen 2.0: Wohlfühlen und Klima schützen
Veranstaltungsreihe „Materials for the European Green Deal“: Neue Versorgungskonzepte und innovative Materialien ermöglichen eine Energiewende im Gebäudesektor
Gebäude in Deutschland verbrauchen laut Bundesbauministerium 40 % der Energie und stehen für fast 30 % des gesamten CO2-Ausstoßes in Deutschland. Jede zweite Heizung und 85 % der Gebäudeverglasungen gelten als ineffizient. Dabei existiert heute schon eine Vielzahl von Technologien, Bauteilen und Werkstoffen, die Emissionen drastisch senken, Ressourcen schonen und zugleich den Wohnkomfort steigern. „In kaum einem anderen Bereich klaffen technische Möglichkeiten und Realität so weit auseinander wie im Sektor Privathaushalte und Gebäude“, betont Sandro Szabo, Projektleiter Materialtechnologien bei Technologieland Hessen.
Welche Materialien und Technologien ermöglichen mehr Klimaschutz in Bau- und Gebäudewirtschaft? Diese Frage stand am 11. Juni im Fokus der Veranstaltung „Materialinnovationen für die Dekarbonisierung der privaten Haushalte“ - die mittlerweile vierte Veranstaltung aus der Reihe Materials for the European Green Deal, die von Technologieland Hessen und Materials Valley e.V. gemeinsam durchgeführt wird.
Elektroauto trifft Wärmepumpe
Die Energiewende im Gebäudesektor ist bereits Alltag bei den Entwicklern von Viessmann Climate Solutions SE in Allendorf. „Wir brauchen nicht nur einen Technologiewandel, sondern ein digitalisiertes und automatisiertes Gesamtkonzept, das Wohnen und Mobilität koppelt“, sagt Martin Roßmann, Global Head Systems & Advanced Technologies. Das Unternehmen setzt auf eine umfassende Elektrifizierung. Statt um Ölverbrauch und Kilowattstunden geht es künftig um Lastmanagement, Peak-Shaving und Netzdienlichkeit. Ganze Quartiere – besonders im Geschosswohnungsbau - werden zu einer energetischen Einheit, in der Erzeugung und Verbrauch intelligent aufeinander abgestimmt sind.
In mehreren Pilotprojekten erprobt Viessmann derzeit mit Partnern, wie praktikabel solche multivalenten Energiesysteme und die dafür notwendigen Komponenten sind, beispielsweise der EEBus als Kommunikationsschnittstelle für das „bidirektionale Laden“: Strom fließt künftig vom Hausnetz in die Ladesäule für das Elektroauto, aber auch umgekehrt. Im Projekt SmartQuart testen die Beteiligten den Aufbau eines wasserstoffbasierten Mikronetzes in der Gemeinde Kaisersesch im Kreis Cochem.
Smarte Fenster mit Wohlfühlfaktor
Gebäude brauchen Fenster. Doch die meisten Verglasungen in deutschen Wohnungen lassen im Winter die Wärme entweichen und im Sommer die Hitze ins Haus. An der Universität Kassel haben Forscher ein Glas entwickelt, bei dem zwischen zwei Isolierglas-Scheiben winzige Mikrospiegel integriert sind. Die Stellung der Spiegel wird über eine von außen angelegte Spannung automatisch gesteuert. An einem heißen Tag sind sie so gekippt, dass sie die äußere Wärmestrahlung nahezu komplett reflektieren. Sind Personen im Raum, lenkt ein Teil der Spiegel das Tageslicht an die reflektierende Decke und sorgt für ausreichend Helligkeit auch in fensterlosen Bereichen. Im Winter ernten die Mikrospiegel die solare Wärmestrahlung und lenken sie gezielt nach innen. „Bei Hitze wird der Wärmeeintrag gewaltig reduziert, im Winter kann optimal mit der Sonne geheizt werden“, sagt Prof. Hartmut Hillmer, Leiter des Fachgebiets Technische Elektronik an der Universität Kassel.
Das 2017 von der Uni ausgegründete Startup Nanoscale Glasstec GmbH in Kassel erprobt die reale Anwendung der Mikrospiegelverglasung. Versuche im Demonstrator, Simulationen und Betriebstests haben gezeigt, dass die Technologie in einem breiten Bereich von minus 80 bis plus 120 °C funktioniert. Die Mikrospiegelverglasung spart etwa ein Drittel der Energie, „außerdem reagiert sie sehr schnell auf Temperaturänderungen und hat eine lange Lebensdauer“, resümiert CEO Guilin Xu die bisherigen Ergebnisse.
Heizen mit Strom – gut fürs Klima
Die Zeiten, als Heizen mit Strom als Umweltfrevel galt, sind lange vorbei. „Ohne den großflächigen Einsatz von Wärmepumpen werden die Klimaziele nicht zu erreichen sein“, ist Kilian Bartholomé, Gruppenleiter Kalorische Systeme vom Fraunhofer IPM in Freiburg, überzeugt. Im Projekt ElKaWe arbeiten sechs Fraunhofer-Institute an der Entwicklung elektrokalorischer Wärmepumpen zum Heizen und Kühlen als Alternative zur Kompressor-Technologie. Sie versprechen einen höheren Wirkungsgrad und kommen ohne schädliche Kältemittel aus. Bei elektrokalorischen Werkstoffen, wie z.B. bestimmten Keramiken oder Polymeren, sinkt in einem von außen angelegten elektrischen Feld die Entropie und das Material erwärmt sich. Wird das Feld abgeschaltet, kühlt der Werkstoff wieder ab. Dieser Prozess ist beliebig oft reversibel. Werden elektrokalorische Module in Reihe geschaltet, lässt sich damit Wärme oder Kälte pumpen.
Mit neuartigen Werkstoffen für hocheffiziente Wärmepumpen beschäftigt sich auch der Magnethersteller Vacuumschmelze (VAC) in Hanau. VAC nutzt beispielsweise thermoelektrische Materialien, in denen eine Temperaturdifferenz eine elektrische Spannung erzeugt. „In privaten Haushalten könnten thermoelektrische Generatoren als stromerzeugende Wärmetauscher im Blockheizkraftwerk sowohl Strom als auch Wärme liefern“, erläutert Andreas Barcza, Produktmanager bei der VAC. Das Unternehmen beschäftigt sich zudem mit magnetokalorischen Werkstoffen, die ihre Temperatur in Abhängigkeit von einem äußeren Magnetfeld ändern. Derzeit wird untersucht, ob dieser Effekt auch bei Raumtemperatur groß genug und damit für den Einsatz in effizienten Wärmepumpen oder Kältemaschinen nutzbar ist.
Auf Natur gebaut
Womit wird in Zukunft gebaut? Welche Dämmstoffe schützen Gebäude am besten vor Hitze und Kälte? Wie sinken Rohstoffbedarf und Abfallmenge im Bau? Das sind nur einige von vielen Fragen, die über die Nachhaltigkeit künftiger Gebäude entscheiden. „Holz ist der einzig richtige Baustoff, um die Klimaemissionen schnell zu senken“, ist Josef Haas Geschäftsführer vom Fertighaushersteller Kampa in Aalen, überzeugt. Seit vier Jahren werden die Häuser vom Kampa nicht mehr mit Kunststoffdämmung, sondern durch eine spezielle, hinterlüftete Fassade auf angenehme Temperaturen gebracht. Der Verzicht auf Kunststoff macht die Häuser leichter rückbaubar, die Abfallmenge sinkt, betont Haas.
Die Biowert Industrie GmbH setzt auf Dämmung aus Wiesengras. In einer Bioraffinerie in Brensbach gewinnt das Unternehmen aus dem Gras reine Zellulose, die in einem speziellen Verfahren brandsicher gemacht wird, das Asli Hanci, Projektmanagerin Marketing & Vertrieb, vorstellte. Danach eignet sich das Material als Einblasdämmstoff für Hohlräume im Wand-, Boden- und Dachbereich oder als Schüttdämmstoff für ebene Flächen. Materialexperten um Prof. Samuel Schabel an der TU-Darmstadt entwickeln Bauteile und Wandelemente ganz aus Papier. Tatsächlich hat Zellulose und damit auch die Papierfaser eine innere Struktur, die der von Drahtseilen ähnelt. Sie kann daher Basis sein für Werkstoffe mit hoher Zugfestigkeit und Formbarkeit. Ein interdisziplinäres Team an der TU hat Demonstratoren im Maßstab 1:1 gebaut, die zeigen, wie erstaunlich stabil und langlebig Wand- und Dachkonstruktionen, aber auch Möbel und Inneneinrichtung aus Papier sein können.
Lösungen für Altbestand gesucht
Eine emissionsarme, vernetzbare und digitalisierte Architektur ist im Neubau durchaus machbar, was aber tun mit dem großen Altbestand? Die TU Darmstadt untersucht derzeit in einem Förderprojekt, wie der Campus mit seinen massiven Betongebäuden aus den 1960er Jahren künftig klimaschonend und energieeffizient betrieben werden kann. Im Fokus steht das Hauptgebäude des Fachbereichs Architektur. In Teilen des Architekturgebäudes wurden die Flächen von Decken und Wänden durch zusätzliche Elemente vergrößert, um die Wärmeübertragung zu maximieren. „Mit Hilfe eines digitalen Zwillings werden die Energieströme im Lifemonitoring abgebildet und gesteuert“, erläutert Prof. Christoph Kuhn, Leiter des Fachgebiets Nachhaltiges Bauen. Durch die vergrößerten Flächen sinkt die im Wärmenetz benötigte Temperatur und die Einkopplung von regenerativen, fluktuierenden Energien wird einfacher.
Kuhn hat als Architekt eine Vision: „Klima und Energie müssen das Bauen wieder prägen, wie das früher der Fall war. Wir haben das in den vergangenen 200 Jahren leider verlernt“. Einig waren sich viele Referenten darin, dass Nachhaltigkeit im Bauen nicht nur gefordert, sondern auch gesetzlich konkretisiert werden muss, beispielsweise durch eine verpflichtende Lebenszyklusanalyse für Gebäude.
Guter Rat ist nicht teuer
Entscheidend sind nicht zuletzt die Akteure im Markt: Kommunen, die ihren Gebäudebestand energetisch sanieren, Unternehmen mit einer innovativen Produktidee und Privatpersonen, die ihr Eigenheim klimafreundlich beheizen und optimal dämmen wollen. Vieles davon gelingt besser mit der richtigen Beratung und mit finanzieller Unterstützung durch Bund und Land. In Hessen ist die Landesenergieagentur (LEA) wichtiger Ansprechpartner für Ratsuchende. „Wir helfen durch den Förderdschungel“, sagt Fördermittelberater Richard Ferlemann. Mit einem Sonderprogramm für Eigenheime unterstützt Hessen seit Februar verstärkt die energetische Sanierung von privaten Altbauten. Bis 2025 soll die Sanierungsquote von Wohngebäuden im Land von ein auf zwei Prozent verdoppelt werden.
Die Veranstaltungsreihe wird mit dem Thema Materialinnovationen zur Dekarbonisierung der Strom- und Wärmeerzeugung am 9. September fortgesetzt. Weitere Informationen zur Reihe Materials for the European Green Deal und die Anmeldemöglichkeiten finden Sie hier:
Text: Dipl.-Ing. Christa Friedl
Materials Valley e.V. ist ein seit 2002 bestehender Verein unter Beteiligung von Industrieunternehmen, Hochschulen, Forschungsinstituten, Institutionen der Länder zur Förderung von Technologie und Wirtschaft und Privatpersonen.
Informieren, Beraten, Vernetzen: Das Technologieland Hessen unterstützt Unternehmen dabei, zukunftsweisende Innovationen zu entwickeln. Umgesetzt wird das Technologieland Hessen von der Hessen Trade & Invest GmbH im Auftrag des Hessischen Wirtschaftsministeriums.