Fördermillionen für natürliche CO2-Speicher, stabile Keramik und Heavy Metal im 3D-Tunnel
Wiesbaden. Sieben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hessischer Hochschulen und Forschungseinrichtungen erhalten ERC Starting Grants, wie der Europäische Forschungsrat ERC heute bekannt gegeben hat. Diese Stipendien sind mit jeweils rund 1,5 Millionen Euro dotiert und richten sich an talentierte Forschende, die eine unabhängige Karriere starten und eine eigene Arbeitsgruppe aufbauen möchten. Die Auszeichnungen krönen ein für hessische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf europäischer Ebene erfolgreiches Jahr: Auch zwei Synergy Grants, drei Consolidator Grants und zwei Proof of Concept Grants gingen jüngst an Forschende an hessischen Einrichtungen, nachdem bereits im April neun der renommierten Advanced Grants ihren Weg nach Hessen gefunden hatten.
„Ich gratuliere allen Spitzenforscherinnen und -forschern, die im internationalen Wettbewerb um diese renommierten Stipendien erfolgreich waren“, erklärt Hessens Wissenschaftsministerin Angela Dorn. „Wir brauchen hochkarätige Forschung, um die Herausforderungen unserer Zeit angehen zu können – und auch die Studierenden in Hessen profitieren davon, dass unsere Hochschulen und Forschungseinrichtungen in der Spitzenwissenschaft ganz vorn dabei sind. Als Ministerium unterstützen wir sie dabei, gemeinsam eine stärkere Beteiligung an den Forschungsförderprogrammen der EU zu erreichen. Das erfolgreiche Abschneiden bei den ERC-Grants ist sehr ermutigend und beweist das große Potenzial hessischer Forschung.“
Starting Grants
Dr.-Ing. Xufei Fang, Technische Universität (TU) Darmstadt, Fachbereich Materialwissenschaften: „Mechanics-tailored Functional Ceramics via Dislocations – MECERDIS“. Dieses Forschungsvorhaben untersucht eine neue Generation von Keramik, die plastisch verformbar ist und dank gezielt veränderter Kristallstruktur neue Anwendungsmöglichkeiten eröffnet. So genannte Versetzungen ziehen sich als gerade oder gebogene Linie quer durch den Kristall der Keramik und können als Kanal genutzt werden – etwa für den Einbau von Sauerstoff oder auch als Bremse für die Ausbreitung von Wärme. Ziel ist ein neuer Keramikwerkstoff, der nicht so schnell Schaden nimmt und eine höhere Bruchtoleranz hat.
Dr. Sebastian Eckart, Goethe-Universität Frankfurt, Institut für Kernphysik: „Tunnel ionization in three-dimensional tailored light fields – 3DTunneling“. Im Projekt werden erstmals dreidimensionale Lichtfelder mit einer extremen Intensität – also Helligkeit – von bis zu 1015W/cm2 erzeugt. Ziel ist es, Eigenschaften der Elektronenhülle in allen drei Raumdimensionen und auf Femtosekunden genau zu erforschen; eine Femtosekunde sind 0,000000000000001 Sekunden. Die Elektronenhülle bestimmt maßgeblich die Eigenschaften von Atomen und Molekülen. Das geplante weltweit einzigartige 3D-Licht-3D-Detektionsgerät soll es ermöglichen, Quantenmechanik und Licht-Materie-Wechselwirkung zu untersuchen.
Prof. Dr. Daniel Kaiser, Justus-Liebig-Universität (JLU) Gießen, Mathematisches Institut: „Personalized priors: How individual differences in internal models explain idiosyncrasies in natural vision – PEP“. Mit seiner Forschung zu Mechanismen der visuellen Wahrnehmung untersucht Professor Kaiser interne Wahrnehmungsmodelle einzelner Personen, um individuelle Unterschiede zu modellieren. Das Projekt liefert einen neuen Erklärungsansatz dafür, warum Menschen sich in ihrer Wahrnehmungseffizienz teils drastisch unterscheiden und sie sich über die Lebensspanne oder in klinischen Störungsbildern verändert. Professor Kaiser ist Teil des vom Land Hessen geförderten Clusterprojekts „The Adaptive Mind“ von JLU (federführend) mit Philipps-Universität Marburg und TU Darmstadt, an dem auch Goethe-Universität Frankfurt und das Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS) beteiligt sind. Das Land fördert dieses Projekt zur Anpassung des Menschen an seine Umwelt seit April 2021 für vier Jahre mit insgesamt 7,4 Millionen Euro.
Dr. Daqing Wang, Universität Kassel, Fachbereich Experimentalphysik: „Molecular Spins for Quantum Technology – MSpin“. Das Forschungsvorhaben beschäftigt sich mit der molekularen Quantentechnologie. Dr. Wangs Projekt „MSpin“ erforscht Strategien zum Nachweis und zur Kontrolle einzelner Kernspins in organischen Molekülen und passt sie für Anwendungen in der Quanteninformationsverarbeitung an. Ein ehrgeiziges Ziel dieses Projekts ist es, die günstige kohärente Photonenemission von Farbstoffmolekülen mit den gut isolierten Quantenzuständen einzelner Kernspins im Molekül zu kombinieren. Dies kann die Speicherung und Umwandlung von Quanteninformationen erleichtern.
Dr. Jan Michael Schuller, Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Biochemie, „CO2 Fixation and Energy Conservation in the ancient Wood-Ljungdahl Pathway – Two CO2 One“. Das Projekt untersucht die Grundlagen, wie evolutionär sehr alte, anaerob lebende Mikroorganismen Kohlenstoff zu energiehaltigen Stoffen wie Glucose umbauen. Die Forschung an diesen Mikroorganismen kann den Weg für ihren biotechnologischen Einsatz bereiten und so dazu beizutragen, CO2 zu sparen, um dem vom Menschen verursachten Klimawandel entgegenzuwirken. Dr. Schuller ist Teilprojektleiter (PI) in dem LOEWE-Schwerpunkt „Tree-M – Mechanismen der Resilienz und Umweltwirkung des Blattmikrobioms von Bäumen“, der aus dem hessischen Landesprogramm LOEWE zur Förderung von Spitzenforschung im Zeitraum 2023 bis 2026 mit insgesamt 4,79 Millionen Euro gefördert wird.
Dr. Eugene Kim, Max-Planck-Institut für Biophysik Frankfurt, Arbeitsgruppe „Structure and Dynamics of Chromosomes“: „Mechanism, Regulation and Functions of DNA Loop Extrusion by SMC complexes – LoopSMC“. Das Projekt erforscht, wie Erbanlagen in Form von DNA in den winzigen Zellkernen gespeichert, gepackt und organisiert werden. Es geht um Proteine, die dafür sorgen, dass sich die DNA-Schnüre im Zellkern nicht verknoten und verheddern, weiterhin um die Frage, wie die Proteine Schlaufen aus der DNA wickeln und so ihre Verpackung in Chromosomen steuern, ohne Erhalt und Weitergabe der genetischen Information zu beeinträchtigen. Das Verständnis dieses Prozesses könnte in Zukunft neue Erkenntnisse darüber liefern, wie seltene Entwicklungsstörungen entstehen und therapiert werden könnten.
Dr. Henrike Niederholtmeyer, Max Planck Institut für Terrestrische Mikrobiologie Marburg, Arbeitsgruppe „Cell-free Synthetic Biology“: „Cell-free synthesis and assembly of biomolecular condensates: Engineering proper-ties, functions and regulation – SYNSEMBL“. Dr. Niederholtmeyer untersucht mit ihrer Forschungsgruppe, wie sich biologische Systeme in Raum und Zeit organisieren und dabei mit anderen Systemen interagieren. Damit etwa komplexe biochemische Prozesse in Zellen effizient ablaufen können, spielen die molekulare Interaktion und die räumliche Ordnung eine zentrale Rolle. Das Projekt von Dr. Niederholtmeyer hat das Ziel, programmierbare, protein-basierte Kompartimente für die Synthetische Biologie zu entwickeln. So sollen neuartige biochemische Funktionen effizienter, spezifischer und kontrollierbarer werden.
Synergy Grants
Privatdozent Dr. Andreas Bauswein, GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung Darmstadt: HEAVYMETAL – How Neutron Star Mergers make Heavy Elements. Professor Bauswein ist Teil eines vierköpfigen internationalen Teams, das einen ERC Synergy Grant erhält. Das Forschungsprojekt hat sich das Ziel gesetzt, die Entstehung chemischer Elemente in Neutronenstern-Verschmelzungen zu untersuchen. Neutronensterne verfügen über äußerst starke Gravitations- und Magnetfelder; wenn sie kollidieren, werden beträchtliche Mengen an neutronenreicher Materie herausgeschleudert, in der sich schwere chemische Elemente wie Silber, Gold, Platin bilden.
Prof. Dr. Michael Gottfried (Philipps-Universität Marburg) erhält gemeinsam mit Prof. Dr. Michael Mastalerz von der Universität Heidelberg und Prof. Dr. Holger Bettinger von der Universität Tübingen einen Synergy Grant. Mit ihrem Projekt „Tackling the Cyclacene Challenge“ (TACY) wollen die drei Forscher eine besondere Klasse von ringförmigen Kohlenstoffverbindungen – die Cyclacene – erstmalig erzeugen. Der ERC fördert das Projekt mit rund 11 Millionen Euro. Cyclacene sind aufgrund ihrer einzigartigen chemischen, elektronischen und strukturellen Eigenschaften für Anwendungen zum Beispiel in der organischen Elektronik von besonderer Bedeutung.
Synergy Grants sind mit bis zu 10 Millionen Euro für einen Zeitraum von sechs Jahres ausgestattet, hinzu kommen können weitere vier Millionen Euro für bestimmte besondere Kosten. Sie richten sich an Teams von zwei bis vier vielversprechenden Forschenden an den Schnittstellen zwischen etablierten Disziplinen, deren Projekte zu substanziellen Fortschritten an den Grenzen des Wissens führen. Denkbar sind die Entwicklung neuer Methoden und Techniken oder auch ungewöhnliche Herangehensweisen, die nur durch die Zusammenarbeit der benannten Forscherinnen und Forscher möglich sind.
Consolidator Grant
Prof. Sebastian Faust Ph.D., TU Darmstadt, Fachbereich Informatik: „CRYPTOLAYER – Cryptography for Second Layer Blockchain Protocols“. Professor Faust will dezentrale Blockchain-Technologien besser nutzbar machen. Diese Technologie führt Berechnungen – zum Beispiel die Verarbeitung einer Überweisung – verteilt auf eine große Anzahl von Rechnern durch. Das führt zwar zu einer sehr hohen Fehlersicherheit, ist aber derzeit noch sehr teuer und aus Datenschutzgründen schwierig. Hier setzt das Forschungsprojekt an: Mithilfe einer zweiten Protokoll-Ebene können Berechnungen schnell und zu minimalen Kosten umgesetzt werden.
Bereits im März vergeben wurden zwei weitere Consolidator Grants. Consolidator Grants sind mit bis zu zwei Millionen Euro dotiert und werden an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Zeitraum von sieben bis zu zwölf Jahren nach ihrer Promotion vergeben, die bereits exzellente Arbeiten vorweisen können und nun bei ihren bahnbrechenden Forschungsvorhaben unterstützt werden sollen, um sie wissenschaftlich zu konsolidieren.
Proof of Concept Grants
Prof. Dr. Sascha Preu, TU Darmstadt, Fachbereich Elektrotechnik und Informationstechnik: „PhoSTer THz - Photonic Spectrum Analyzer for the Terahertz Spectral Domain“. Viele europäische Staaten hinken bei der Internetverfügbarkeit und der Digitalisierung hinterher. Um hier aufzuholen, sind schnelle Netzwerke essentiell. Künftige 6G-Technologien werden voraussichtlich Frequenzbereiche jenseits von Mikrowellen nutzen, insbesondere den Terahertz-Bereich. Allerdings mangelt es an leistungsstarken und kompakten Quellen, um diesen Bereich zu erschließen. „PhoSTer THz“ befasst sich mit der Entwicklung von Systemen zur spektralen Analyse leistungsstarker Terahertz-Quellen.
Prof. Dr. Heinz Koeppl, TU Darmstadt, Fachbereich Elektrotechnik: „PLATE – Biophysical Genetic Design Automation Technology“. das sich mit Algorithmen für den computergestützten Entwurf von genetischen Schaltkreisen in der synthetischen Biologie beschäftigt. Professor Koeppls Projekt untersucht Rechenmodelle, die aus einer Sequenz- und Regulator-Bibliothek Elemente automatisch in einer funktionalen Kombination zusammenfügen und das Verhalten der entstandenen Netzwerke beziehungsweise Schaltkreise charakterisieren können.
Proof of Concept-Grants sind mit 150.000 Euro über 18 Monate dotiert. Sie richten sich an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die bereits einen ERC-Grant innehaben und ein Forschungsergebnis über die Forschung hinaus weiter entwickeln möchten. So soll das kommerzielle oder gesellschaftliche Potenzial eines ERC-Projekts erkundet werden, als erster Schritt zum Transfer in Markt und Gesellschaft.
Bereits im April waren neun „Advanced Grants“ an Spitzenforscherinnen und –forscher aus Hessen gegangen. Dieses Stipendium ist so etwas wie der „kleine Nobelpreis“ des ERC und unterstützt visionäre Forschung mit bis zu 2,5 Millionen Euro für fünf Jahre. Und schon im März hatten zwei Wissenschaftler aus Hessen je einen Consolidator Grant erhalten.
Ministerin Dorn freut sich besonders, fünf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Hessen begrüßen zu können, die im Jahr 2022 mit ERC-Grant ihre Arbeit an hessischen Einrichtungen aufgenommen haben – ein Beweis für die Anziehungskraft des hessischen Wissenschaftsstandorts und eine große Bereicherung:
Prof. Dr. Crispin Lichtenberg setzt seinen an der Universität Würzburg eingeworbenen ERC Starting Grant seit Januar 2022 an der Philipps-Universität Marburg um. Das Projekt „Bismuth Compounds in Radical Reactions: Fundamental Aspects and Synthetic Applications - Bismuth Goes Radical“ behandelt Bismutverbindungen, mit deren Hilfe gezielt chemische Reaktionen in Gang gesetzt werden, um bestimmte Moleküle in deutlich weniger Schritten und weniger giftig zu produzieren. Professor Lichtenberg konnte auch dank einer LOEWE-Start-Professur nach Marburg berufen werden: Die Sach- und Personalausstattung seiner Professur wird mit Mitteln aus dem Forschungsprogramm des Landes in Höhe von rund 1,47 Millionen Euro über einen Zeitraum von sechs Jahren gefördert.
Prof. Dr. Benoit Merle wird seinen ERC Starting Grant für das Projekt „High-speed Deformation and Failure of Materials at the Nanometer Scale – NanoHighSpeed“, den er 2021 in Erlangen-Nürnberg eingeworben hat, im Zuge seiner Berufung an die Universität Kassel realisieren. Sein Projekt richtet sich darauf, Nanoindentierung zu einem neuen Werkzeug für Versuche mit hoher Verformungsrate zu entwickeln, welches große praktische Relevanz für die Lebensdauer von Beschichtungen etwa von Smartphones und anderen Werkzeuge hat.
Prof. Dr. Jochen Mikosch wurde mit seinem ERC Consolidator Grant für das Projekt „Time-Resolved Structural Imaging of Chemical Transition State Dynamics - c-TSD-p“ im Mai 2022 aus Berlin an die Universität Kassel berufen. Seine Forschung beschäftigt sich mit zeitaufgelösten Strukturabbildung der Dynamik chemischer Reaktionen; ein besseres Verständnis kann helfen, chemische Reaktionsmechanismen etwa der synthetischen Chemie zu optimieren.
Prof. Dr. Andra-Ioana Horcea-Milcu wechselt aktuell mit ihrem ERC Starting Grant „Our sustainabLe futurE, the ValuEs that dRive it, and how to get there – LEVER“ an die Universität Kassel. Ihr Projekt widmet sich der Nachhaltigkeitstransformation, um neue Wege zur Reaktion auf sozial-ökologische Herausforderungen wie den Klimawandel und Bewältigung der heutigen globalen Krisen zu finden.
Prof. Dr. Lisbeth Zimmermann realisiert ihren an der Zeppelin Universität eingeworbenen ERC Starting Grant am Institut für Politikwissenschaft, Goethe-Universität Frankfurt: „The Effects of Far Right Challenges on International Organizations – FARRIO“. Projektziel ist die Erweiterung des Wissens über rechtsextreme Akteure in ihren transnationalen Bestrebungen in Bezug auf die EU und die UN in zentralen Politikfeldern (Migration, Frauenrechte, Klimawandel und öffentliche Gesundheit).