Wendemanöver mit Wasserstoff | Nachbericht zur "Materials to RePower EU"-Veranstaltung vom 23. Mai
Wie weit ist die Industrie mit dem Umstieg auf Wasserstoff? Welche Rolle spielt er künftig beim Beheizen von Gebäuden? Auf der Veranstaltung „Wasserstoff für Industrie und Wärme“ von Materials Valley e.V. und dem Technologieland Hessen am 23. Mai wurde deutlich, dass bei Unternehmen und Energieversorgern die Zeit des Abwartens vorbei ist.
Wer die Energiewende will, muss genau wissen, wovon die Rede ist. Beispielsweise erarbeiten Acatech und DECHEMA derzeit im Rahmen des Projektes Wasserstoff-Kompass einzelne Pfade in eine deutsche Wasserstoffwirtschaft. Der Pfad im Gebäudesektor ist besonders steil. 2020 wurden über 80 Prozent der Raumwärme noch fossil erzeugt, nur 18 Prozent lieferten erneuerbare Energien.
Kommunale Wärmeplaner haben die Qual der Wahl
Die Wärmewende im Gebäudesektor wird komplex. Infrastruktur, Energieträger und Größe der Verbraucher müssen exakt aufeinander abgestimmt sein. Geklärt werden muss, ob Wasserstoff in kleinen Gasthermen, in Brennstoffzellen oder im Kraftwerk genutzt werden soll und wo er mit Biomasse, Abwärmenutzung oder Solarthermie lokal zum hybriden System gekoppelt werden kann. „Die Möglichkeiten sind sehr, sehr zahlreich“, bringt es Michaela Löffler, wissenschaftliche Referentin bei der DECHEMA, auf den Punkt. Und weil die Optionen so zahlreich sind, kommen bisher erstellte Szenarien, wie viel Wasserstoff überhaupt im Gebäudebereich machbar und sinnvoll ist, zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen.
Dennoch ist für Matthias Ertmer, Abteilungsleiter Erzeugung beim Frankfurter Energieversorger Mainova AG, eines klar: „Wasserstoff muss auf jeden Fall auch für den Wärmemarkt ausreichend zur Verfügung stehen“. Das ist ganz besonders für die kommunale Wärmeplanung von Metropolen und Ballungsräumen mit ihrer gewachsenen Infrastruktur und ihrer Vielfalt an Energiekunden entscheidend. Frankfurt setzt – wie viele andere Großstädte auch – künftig auf den Ausbau von Nah- und Fernwärme, um die Emissionen zu senken. Außerdem entsteht in der Nähe des Hauptbahnhofs derzeit ein neues Gaskraftwerk. Die „H2-ready“-GuD-Anlage wird laut Ertmer so errichtet, dass sie mit wenigen Umbauten ein Gasgemisch mit bis zu 75 Prozent Wasserstoff verbrennen kann.
Sicher ist: Die Unsicherheiten sind groß
Das Problem, vor dem viele kommunalen Wärme- und Kraftwerksplaner derzeit stehen ist, dass es bislang noch keine Langzeittests mit H2-reichen Brennstoffen gibt. Auch fehlen Erfahrungen mit dem Aus- und Umbau der Netze, um vor allem künftige „Ankerkunden“ zuverlässig zu versorgen. Nicht zuletzt kann derzeit niemand sagen, ob und wann ausreichend grüner Wasserstoff für den Wärmesektor zur Verfügung steht. „Die Unsicherheiten, mit denen wir umgehen müssen, sind groß“, sagt Ertmer.
Unsicherheit herrscht auch in vielen Industriebranchen, die sich auf die Wasserstoff-Welt vorbereiten. Dennoch arbeiten immer mehr Unternehmen an eigenen Lösungen und testen aus, welche Prozesse sie auf den neuen Energieträger umstellen können. Die chemische Industrie spielt dabei eine Sonderrolle, denn sie ist im Prinzip heute schon H2-ready und zugleich vom Wasserstoff abhängig: Das Gas ist Ausgangsstoff für zahlreiche Chemikalien und wird in der Branche in großen Mengen produziert und eingesetzt. Dabei handelt es sich allerdings um grauen Wasserstoff, bei dessen Produktion Treibhausgase emittiert werden.
Brennen für den Wasserstoff
Wie aber wird der eingesetzte Wasserstoff grün? Einen Ansatz liefert das Projekt GET H2 Nukleus. Bis 2024 wollen mehrere Großunternehmen, darunter das Spezialchemieunternehmen Evonik, die erste öffentlich zugängliche Infrastruktur für grünen Wasserstoff aufbauen. Außerdem erzeugt Evonik Hightech-Werkstoffe, die für Erzeugung und Verteilung des neuen Energieträgers wichtig sind. Dazu gehören Membranen für Elektrolyse und Gastrennung oder Spezialkunststoffe zur Abdichtung von H2-Pipelines und Rohren.
Bei vielen Wärmeprozessen spielen wasserstofftaugliche Brenner eine wichtige Rolle – das gilt für die kleine Gastherme genauso wie für großindustrielle Dampferzeuger. Hier haben Hersteller innerhalb kurzer Zeit viel erreicht. „Es gibt mittlerweile für viele Anwendungen einsatzbereite Wasserstoffbrenner“, sagt Erik Masekowsky, Vertriebsleiter beim Brennerspezialisten Saacke Gmbh. Beispielsweise unterstützt Saacke das BMW-Werk in Leipzig dabei, bis 2025 alle Brennstoffe auf Wasserstoff umzustellen. In vielen Fällen werden sogenannte bivalente Systeme installiert – also Brenner mit zwei separaten Düsen und getrennten Gaszuführungen, die sowohl Erdgas als auch Wasserstoff und Gas/H2-Gemische verfeuern können. Denn auch in der Industrie, so Masekowsky, „ist unsicher, wann genau wieviel grüner Wasserstoff verfügbar sein wird.“
Vor diesem Problem steht auch die Glasindustrie. „Derzeit fehlt schlicht der Wasserstoff, um Langzeitversuche an Schmelzwannen durchzuführen“, betont Stefan Knoche, Mitarbeiter in der Zentralen Forschung & Entwicklung beim Spezialglashersteller Schott AG. In einer Technikumsanlage hat Schott probeweise verschiedene Gläser mit H2 und Erdgas/H2-Mischungen erschmolzen und zur Versorgung der Versuche einen extra Speicher auf dem Betriebsgelände installiert.
Glas, Papier, Zement: Einfach machen!
Die Ergebnisse der bisherigen Testläufe sind laut Knoche vielversprechend. Es gab keine erhöhten Stickoxidemissionen der Brenner und der Energieeintrag war vergleichbar mit Erdgas. Allerdings ist der Wassergehalt im neuen Glas höher, weil die Schmelze beim Einsatz von H2-haltigem Brenngas einer Wasserdampfatmosphäre ausgesetzt ist. Ob dadurch kritische Eigenschaften des Werkstoffs verändert werden, muss noch geklärt werden.
Zudem prüft Schott derzeit, wie künftig die H2-Versorgung des Unternehmens sichergestellt werden kann. In Frage kommen eine On-site-Elektrolyse oder ein Flüssigspeicher mit organischen Trägerölen. Knoche ist optimistisch: „Die Umstellung von Glasschmelzwannen auf Sauerstoffbrenner war technisch schwieriger als der Switch zum Wasserstoff.“ Für den Sommer hat Schott das erste klimaneutrale Spezialglas für Teleskoplinsen und Spiegel angekündigt.
Nicht abwarten, sondern handeln wollen auch Unternehmen der Papierindustrie. Der Hygienepapierhersteller Essity Germany GmbH hat am Standort Mainz-Kostheim die erste von vier Papiermaschinen auf Wasserstoff umgestellt. Dafür wurden neue Brenner installiert, eine Entladestation für Trailer und eine Mischstation eingerichtet. Im Februar 2023 produzierte Essity das erste Papier aus CO2-freier Produktion. „Für uns ein klarer Wettbewerbsvorteil“, betont Thorsten Becherer, Site Manager bei Essity.
Power to Chemistry
Im Fokus der Dekarbonisierung steht insbesondere die Zementindustrie, da CO2 als unvermeidbares Nebenprodukt in jedem Zementwerk entsteht. Im Verbundprojekt CO2-Syn suchen Partner aus Industrie und Wissenschaft einen neuen Weg, um die Emissionen der Branche zu senken. „Eine herkömmliche CO2-Abscheidung und Endlagerung, wie sie manche Zementwerke planen, ist auf lange Sicht viel zu teuer“, urteilt Ulf-Peter Apfel, Chemieprofessor an der Ruhr-Universität Bochum.
Nachhaltiger und sinnvoller ist es in seinen Augen, CO2 und Wasser über eine Co-Elektrolyse mit besonders robusten Katalysatoren in Kohlenstoffmonoxid und Wasserstoff umzusetzen. Aus diesem Synthesegas entstehen dann durch Thermokatalyse chemische Produkte wie Olefine und Alkohole. Für CO2-Syn liefern die Phoenix Zementwerke im nordrhein-westfälischen Beckum das Abgas. Derzeit wird die Elektrolyse von Laborgröße in einen 50-Kilowatt-Stack skaliert. Bis 2026 soll eine gesamte Prozesskette im Pilotmaßstab entwickelt sein.
Dem Motto „Think Big“ folgt die Hydrogen Roadmap des Schwerindustrie-Konzerns Kawasaki. Dabei überlassen die Japaner nichts dem Zufall: „Für jedes Glied in der Wertschöpfungskette haben wir eigene Produkte entwickelt“, betont Nurettin Tekin, Hydrogen Product Manager bei der Kawasaki Gas Turbine Europe GmbH. Das beginnt bei der Wasserstofferzeugung – derzeit noch aus Braunkohle – über die Verflüssigung und den Transport mit eigenen Schiffen und Trailern bis hin zu Brennkammern und Gasturbinen. Gemeinsam mit RWE will Kawasaki bis 2025 eine Gasturbine mit 34 Megawatt Leistung im Kraftwerk Lingen installieren, die dann mit 100 Prozent grünem Wasserstoff betrieben wird.
Der Kosten-Wettlauf hat begonnen
Bei energetischen Wendemanövern, wie sie Deutschland bevorstehen, ist guter Rat besonders teuer. Das weiß kaum jemand besser als der Nationale Wasserstoffrat, den die Bundesregierung 2020 berufen hat. Das Beratergremium widmet sich derzeit vielen Aspekten einer Wasserstoffwirtschaft mit Gutachten und Kurzstudien. Für die Industrie von großer Bedeutung sind die Einschätzungen des Rats zu Markthochlauf und Wettbewerbsfähigkeit, sagt Martin Roßmann, Senior Advisor bei der Viessmann Elektronik GmbH. Der Heizungsspezialist ist mit einem kleinen Team im Wasserstoffrat vertreten.
Bei diesen Themen halten derzeit weder Deutschland noch Europa die Trümpfe in der Hand. Vielmehr könnten die USA bald zum weltweit wirtschaftlichsten Hersteller von grünem Wasserstoff werden, prognostiziert Roßmann. Durch Steuergutschriften im Rahmen des neuen Inflation Reduction Act (IRA) sinken die Gestehungskosten vor allen von Solar- und Windstrom, in der Folge wird der Betrieb von Elektrolyseanlagen und die Produktion von grünem Wasserstoff mit einem Schlag wirtschaftlich. Die Erzeugungskosten könnten in den USA bald bei 1,2 US-Dollar pro Kilogramm liegen. Hersteller in Europa rechnen derzeit noch mit drei bis vier US-Dollar pro Kilogramm bis 2030.
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Die Online-Veranstaltungsreihe „Materials to RePowerEU“ von Materials Valley und dem Technologieland Hessen endet hiermit. Die Abschlussveranstaltung – in Präsenz- findet am 14. Juli im Congresspark Hanau statt.