Die innere Uhr von Werkstoffen
Im Alltag erfahren wir, dass Zeit nur eine Richtung kennt. Wer hätte je beobachtet, wie eine Tasse auf dem Boden zerschellt und sich hinterher spontan wieder zusammensetzt? Für Physiker und Physikerinnen ist das zunächst nicht selbstverständlich. Denn die Formeln, die Bewegungen beschreiben, gelten unabhängig von der Richtung der Zeit. Ein Video von einem ungedämpft schwingenden Pendel etwa würde genauso aussehen, wenn es rückwärts läuft. Die alltägliche Unumkehrbarkeit kommt erst durch ein weiteres Naturgesetz in die Welt, dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Dieser besagt, dass die Unordnung in einem System stets anwächst. Würde die zerschellte Tasse sich wieder zusammensetzen, würde die Unordnung jedoch sinken.
Das Altern von Materialien ist sicherlich genauso irreversibel wie das Zerspringen eines Glases – könnte man meinen. Beim Erforschen der Bewegungen von Molekülen in Glas oder Kunststoff jedoch haben Darmstädter Physiker und Physikerinnen nun entdeckt, dass diese zeitumkehrbar verlaufen, wenn man sie aus einer bestimmten Perspektive betrachtet. Das Team um Till Böhmer vom Institut für Physik Kondensierter Materie der Technischen Universität Darmstadt publiziert das Ergebnis nun im renommierten Fachmagazin Nature Physics.
Gläser oder Kunststoffe bestehen aus einem Gewirr von Molekülen. Die Teilchen bewegen sich ständig, wodurch sie immer wieder in neue Positionen rutschen. Dabei streben sie auf Dauer einen energetisch günstigeren Zustand an, wodurch sich die Materialeigenschaften mit der Zeit verändern – das Glas altert. Bei Nutzmaterialien wie Fensterglas kann das allerdings Milliarden Jahre dauern. Der Alterungsprozess lässt sich durch die so genannte „Materialzeit“ beschreiben. Diese kann man sich wie eine innere Uhr des Werkstoffs vorstellen, die anders tickt als die Uhr an der Laborwand. Die Materialzeit tickt unterschiedlich schnell, je nachdem wie schnell sich die Moleküle im Innern des Materials umordnen.
Seit der Entdeckung des Konzepts vor gut fünfzig Jahren ist es jedoch nicht gelungen, die Materialzeit zu messen. Die Darmstädter Forscher und Forscherinnen unter der Leitung von Professor Thomas Blochowicz haben es nun erstmals geschafft. „Das war eine große experimentelle Herausforderung“, sagt Böhmer. Schließlich galt es, die winzigen Fluktuationen der Moleküle mit einer hochempfindlichen Videokamera zu dokumentieren. „Den Molekülen kann man aber nicht so einfach beim Zappeln zusehen“, ergänzt Blochowicz.
Doch den Forschenden fiel etwas ein. Sie strahlten mit einem Laser auf die Probe aus Glas. Die Moleküle darin streuen das Licht. Die gestreuten Strahlen überlagern sich und bilden auf dem Sensor der Kamera ein chaotisches Muster aus hellen und dunklen Flecken. Mit statistischen Methoden lässt sich aus diesem Muster berechnen, wie die Fluktuationen zeitlich schwanken – mit anderen Worten, wie schnell die innere Uhr des Materials tickt. „Dafür sind höchst präzise Messungen nötig, die erst mit Hilfe neuester Videokameras möglich wurden“, sagt Blochowicz.
Doch es hat sich gelohnt. Denn bei der statistischen Analyse der Molekül-Fluktuationen, bei denen Forschende der Universität Roskilde in Dänemark halfen, zeigte sich Überraschendes. Bezogen auf die Materialzeit verhalten sich die Fluktuationen der Moleküle zeitumkehrbar. Das heißt, sie verändern sich nicht, wenn man die Materialzeit rückwärts ticken lässt, ähnlich also wie das Video vom Pendel, das vorwärts und rückwärts abgespult gleich aussieht.
„Das heißt aber nicht, dass sich das Altern von Materialien umkehren lässt“, betont Böhmer. Vielmehr bestätigt das Ergebnis, dass das Konzept der Materialzeit gut gewählt ist. Denn sie drückt den gesamten irreversiblen Teil des Alterns des Materials aus. Ihr Ticken verkörpert den Lauf der Zeit für das jeweilige Material. Alles, was sich bezüglich dieser Zeitskala sonst noch im Material bewegt, trägt nicht zur Alterung bei. Ähnlich wie, bildlich gesagt, das Herumtollen der Kinder auf der Rückbank des Autos nichts zu dessen Fortbewegung beiträgt.
Die Darmstädter Forschenden glauben, dass dies generell für ungeordnete Materialien gilt, da sie zwei Materialklassen – Glas und Kunststoff – untersucht, sowie eine Computersimulation eines Modell-Materials ausgeführt haben – mit den gleichen Ergebnissen.
Der Erfolg der Physiker und Physikerinnen ist erst der Anfang. „Daraus ergibt sich ein riesiger Sack offener Fragen“, sagt Blochowicz. So sei etwa zu klären, inwieweit die beobachtete Umkehrbarkeit bezüglich der Materialzeit auf die Umkehrbarkeit der physikalischen Naturgesetze zurückzuführen ist, oder wie sich das Ticken der inneren Uhr für verschiedene Materialien unterscheidet. Die Forschenden wollen dranbleiben. Es bleibt spannend.