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06.11.2024

KI statt Chemie

TUDa Start-up ViSPAGI stellt die Krebsdiagnostik auf den Kopf

Krebs zählt für viele zu den erschreckendsten Diagnosen. Etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung erkrankt im Laufe ihres Lebens daran, wie Statistiken des Robert Koch-Instituts (RKI) zeigen. Jährlich gibt es rund 500.000 Neuerkrankungen in Deutschland. Doch es gibt Hoffnung: Mehr als die Hälfte der Betroffenen überlebt, auch dank verbesserter Diagnostik.

Das Start-up ViSPAGI, gegründet von Dr. Özdemir Cetin und Ahmed Elshamanhory, revolutioniert die Krebsdiagnose mit KI-Technologie. ViSPAGI ermöglicht präzise Diagnosen innerhalb von Minuten statt Wochen. Das verkürzt psychische belastende Wartezeiten auf Befunde dramatisch und ermöglicht frühere und effektivere Behandlungen. Unterstützt von der TU Darmstadt und dem Universitätsklinikum Frankfurt hat das Unternehmen in einer Pilotstudie sein Potenzial bewiesen und steht kurz vor der Markteinführung. Das Ziel: schnellere, präzisere Ergebnisse und bessere Heilungschancen für Patienten.

Künstliche Intelligenz (KI) verändert derzeit die Krebsdiagnostik. Mit welcher innovativen Idee spielt ViSPAGI mit?

Özdemir Cetin: Wenn Ärztinnen und Ärzte bei Untersuchungen – sei es durch Abtasten oder bildgebende Verfahren – auffällige Gewebeveränderungen entdecken, entnehmen sie eine Biopsie. Diese Proben müssen untersucht werden, um festzustellen, ob es sich um Krebs handelt. Traditionell ist dies ein zeitaufwändiges Verfahren, da die Gewebeproben mehrfach chemisch eingefärbt werden müssen, um die Krebszellen unter dem Mikroskop zu erkennen. Durch den Farbkontrast können die Pathologen die verschiedenen Strukturen und Zelltypen im Gewebe besser unterscheiden.

Dieses Verfahren ist langwierig und für die Patienten sehr belastend. ViSPAGI hingegen nutzt künstliche Intelligenz, um den Kontrast digital zu erzeugen. Unsere Technologie verwendet virtuelle Färbungen, um die notwendigen Strukturen hervorzuheben. Dadurch werden physische Kontrastmittel oder zusätzliche chemische Prozesse überflüssig. Das Ergebnis ist ein digitales Bild, das den visuellen Effekt verschiedener Färbemethoden nachahmt, ohne dass physische Reagenzien verwendet werden. ViSPAGI kann nacheinander verschiedene virtuelle Färbungen auf dasselbe digitale Gewebebild anwenden, sodass Pathologen mehrere diagnostische Informationen aus einem Bild erhalten können. Dies ermöglicht eine sichere Diagnose innerhalb von Minuten statt Wochen. Und es spart enorme Laborkosten.

Was macht VisPAGI anders als andere KI-basierten Diagnoseprogramme?

Ahmed Elshamanhory: Im Gegensatz zu anderen KI-basierten Systemen, die darauf trainiert werden, anhand von Bildern Krebs bzw. Tumore als solche zu erkennen, sind virtuelle Färbungen, wie wir sie anwenden, kein Diagnosewerkzeug für sich. ViSPAGI unterstützt Pathologen dabei, Gewebebilder effizienter zu interpretieren und schneller zu einer Diagnose zu kommen, indem es die Notwendigkeit verringert, im Labor viele physische Färbungen durchzuführen. In bestimmten Fällen können traditionelle Färbemethoden jedoch weiterhin eine Rolle spielen. Die endgültige Diagnose wird also von Experten gestellt, die diese virtuell gefärbten Bilder sorgfältig untersuchen.

Auf Basis welcher Daten ermittelt die KI eine Diagnose – Bilder, Befunde?

Özedemir Cetin: Die KI arbeitet hauptsächlich mit Bildern – also Whole-Slide Images (WSIs), die digitale Scans von Gewebeproben sind. Diese Bilder erhalten wir aus der Pathologie der jeweiligen Krankenhäuser. Sie werden verwendet, um die Morphologie des Gewebes zu beurteilen, und der Algorithmus der KI wendet virtuelle Färbungen an, um Kontraste zu erzeugen, ähnlich denen, die durch traditionelle chemische Färbungen erreicht werden. Die Diagnose basiert also ausschließlich auf den visuellen Informationen dieser gescannten Bilder, und es sind keine zusätzlichen Berichte oder Dateneingaben erforderlich.

Womit wir beim Thema Datenschutz sind: Strenger Datenschutz behindert die Nutzung von KI in der Krebsdiagnose in Europa. Wie beeinträchtigt der Datenschutz die Entwicklung und Anwendung von ViSPAGI?

Ahmed Elshamanhory: Gar nicht. Wir bekommen ausschließlich die Bilder von anonymisierten Gewebeproben. Wir kennen keine Namen, keine Arztberichte, keine Befunde. Für unsere Technologie brauchen wir das nicht. Wie sind zu hundert Prozent DSGVO konform und garantieren höchste Standards in Bezug auf Datenschutz und Datensicherheit.

Und trotzdem fällt es vielen Ärzten schwer, einer KI zu vertrauen. Woran liegt das und wie könnte dieses Vertrauen aufgebaut werden?

Özdemir Cetin: Ärzte haben oft Schwierigkeiten, einer KI zu vertrauen, weil sie nicht nachvollziehen können, wie die Ergebnisse von der Technologie erzielt werden. Da die KI wie eine ‘Blackbox’ wirkt, fehlt es an Transparenz, was das Vertrauen erschwert.

Wir arbeiten daran, unsere Software transparenter zu gestalten, sodass Ärzte besser nachvollziehen können, wie die Ergebnisse durch die KI erzielt werden. Dabei berücksichtigen wir auch die Unsicherheiten im Modell, um sicherzustellen, dass die Ergebnisse nachvollziehbar und vertrauenswürdig sind.

Derzeit ist es so, dass wir Gewebebilder ankaufen, um unsere KI zu trainieren. Wenn wir so weit sind, dass wir an den Markt gehen können, wird es so sein, dass wir ViSPAGI als Software den Medizinern zur Verfügung stellen. Da verlassen keine Bilder oder sonstige Daten die Klinik. An ihrem eigenen herkömmlichen Laptop – sogar im OP – geben die Ärzte selbsttätig die von ihnen gemachten Gewebebilder ein und lassen sie virtuell färben. Das gibt Transparenz und Sicherheit im Verfahren.

Wie seid ihr überhaupt auf die Idee gekommen, die digitale Pathologie zu revolutionieren?

Özdemir Cetin: Ein Freund von mir arbeitet an der Frankfurter Universitätsklinik in der Pathologie und erzählte mir von den aufwendigen Diagnoseverfahren bei Krebserkrankungen. Von an Krebs erkrankten Familienmitgliedern weiß ich, dass es psychologisch die Hölle ist, wochenlang auf einen Befund zu warten.

Ich bin Ingenieur für Elektrotechnik und als KI-Enthusiast überzeugt, dass das besser geht. Also habe ich mich daran gemacht, eine entsprechende Technologie zu entwickeln. Das erste Ergebnis habe ich dem befreundeten Pathologen gezeigt. Ich kann sagen, er war hingerissen und überzeugt, dass unsere Technologie einen Paradigmenwechsel in der Krebsdiagnostik einläuten wird.

Ahmed Elshamanhory: ViSPAGI ist ein echter Gamechanger mit großem Anwendungspotenzial, und zwar weltweit. Deswegen haben wir jetzt auch ein Start-up gegründet. Und wir glauben, dass es sehr erfolgreich sein wird, weil wir nicht einfach ein Produkt auf den Markt werfen und dann abwarten, ob es jemand braucht. Wir bieten eine revolutionäre Lösung an, die ein großes Problem in der Pathologie angeht, indem sie Arbeitsabläufe verändert und Zeit im Labor erheblich reduziert. Trotzdem erfordert die Implementierung Schulung und eine Anpassung an bestehende klinische Strukturen.

Ihr habt erst im Sommer 2024 euer Start-up gegründet. Konntet ihr bereits Fördermittel einwerben oder an einem Accelerator teilnehmen?

Özdemir Cetin: Mithilfe der Mitarbeiter:innen des Innovations- und Gründungszentrums HIGHEST bekamen wir Kontakt zu hessian.AI und weiteren Playern im Start-up Ökosystem wie zum Beispiel dem Accelerator ryon oder dem Bundestagsabgeordneten Kai Gehring, der für Innovationen zuständig ist. Wir erhielten zusammengenommen aus dem Distr@l – Förderprogramm der Bundesregierung, das Digitalisierung und Forschungstransfer stärkt, dem LAISF-Programm von hessian.AI und SOS rund eine Million Euro. Das ermöglichte es uns, einen Prototypen fertigzustellen, eine Machbarkeitsstudie zu finanzieren und weitere Mitarbeiter:innen einzustellen.

Wer oder was begleitet euch durch den Gründungsprozess?

Ahmed Elshamanhory: Wir werden im Rahmen der Förderprogramme gecoacht, nehmen an Trainings teil, entwickeln ein Geschäftsmodell für ViSPAGI. Wir verstehen uns als Gründer, die in der Lage sind, aus verschiedenen Perspektiven heraus schnell und effizient Probleme zu lösen. Wir haben hier in Deutschland studiert und geforscht, verstehen die Anforderungen des Marktes und haben eine klare Vision davon, wie man die Krebsdiagnose verbessern kann. Wir stehen kurz davor, eine bahnbrechende Technologie auf den Markt zu bringen, mit dem Ziel, eine Zukunft zu schaffen, in der die Krebsdiagnose intelligenter, sicherer und präziser ist, weltweit.

Das Interview führte Heike Jüngst.

 

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