Bei der Organisation des ersten Hessischen Innovationskongresses haben die Veranstalter wohl häufiger an folgende Geschichte gedacht – und daran, dass sie sich nicht wiederholen dürfe: Vor fast 150 Jahren erfand der hessische Mathematik- und Physiklehrer Philipp Reis das Telefon. Er präsentierte seinen Apparat im Physikalischen Verein in Frankfurt, stieß aber kaum auf Interesse. Der Amerikaner Alexander Graham Bell hingegen erkannte das Potenzial, entwickelte das Telefon, das Töne zunächst nur in eine Richtung übertrug, weiter und ließ sich die Erfindung 1876 patentieren – zwei Jahre nach dem Tod von Reis, dem die Idee weder Ruhm noch Geld gebracht hatte. Die Fernsehjournalistin Katrin Prüfig, die als Moderatorin durch den Kongresstag führte, erwähnte das Beispiel in ihrer Begrüßung, denn es zeigt: Ein guter Einfall allein ist noch keine Innovation. Wie gelingt der Transfer aus der Forschung in die Anwendung? Welche Erfindungen sind zukunftsträchtig, auf welche sollten wir besser verzichten? Und sind Innovationen überhaupt planbar? Antworten auf solche Fragen sowie Tipps für den Innovationsprozess und zahlreiche Beispiele für Neuentwicklungen aus Hessen gab es im Laufe der Veranstaltung reichlich.
Digitalisierung als Treiber
In Zeiten von Klimawandel, Digitalisierung und knapper werdenden Ressourcen wächst der Innovationsdruck. Wie gut also, dass Keynote-Sprecher Matthias Horx, in Frankfurt aufgewachsener und jetzt in Wien lebender Trend- und Zukunftsforscher, gleich zu Beginn der Veranstaltung Gelassenheit in die Innovationsdebatte brachte. Er räumte mit einigen Ängsten auf. Der weit verbreiteten Sorge etwa, dass künstliche Intelligenz und die zunehmende Automatisierung unsere Jobs überflüssig machen, entgegnete er: „Maschinen sind dumm und werden es immer bleiben“. Wer also glaube, dass Roboter die besseren Barkeeper seien, nur weil sie Drinks perfekt schütteln, habe die eigentliche Aufgabe der Frauen und Männer hinter dem Tresen nicht verstanden.
Überhaupt hatte Horx der Digitalisierung einige Argumente entgegenzusetzen. Den Trend zur Digitalisierung in der Schule etwa findet er bedenklich, denn Lernen sei ein sozialer Akt. Auch ist er kein Freund von jenen Smart Homes, in denen alle Geräte und Dinge miteinander vernetzt sind, der Herd von allein kocht und der Kühlschrank autonom einkauft. Derart „parasitäre“ Innovationen, die dazu führen, dass wir natürliche Fähigkeiten wie das Kochen verlernen, lehnt der Zukunftsforscher ab. Er warf Fotos an die Wand, die für smartes Wohnen werben sollen: Große Räume, modern eingerichtet zwar, aber steril und menschenleer: „Wollen Sie da etwa wohnen?“ fragte er die Zuhörer. Er jedenfalls nicht: „Da ist doch niemand zu Hause.“
Ein Gegner der Digitalisierung ist Horx dennoch nicht, er will sie nur anders verstanden wissen. „Zukunft entsteht, wenn Beziehungen gelingen“, sagte er. Dementsprechend sieht er in der Digitalisierung eine Beziehungskraft und im Internet einen Agenten der Verbindungshaftigkeit, der Sharing-Möglichkeiten erzeugt.
Digitalisierung und Automatisierung standen auch auf der Agenda der anschließenden Podiumsdiskussion, an der neben Horx Vertreter aus Industrie und Politik teilnahmen. Dr. Holger Cartsburg, Geschäftsführer der Rolls-Royce Deutschland Ltd & Co KG und Standortleiter Oberursel, sieht in der Digitalisierung ebenfalls nicht nur Vorteile. Er wies darauf hin, dass sich Piloten schon heute auf Langstreckenflügen langweilen und Ingenieure sich kaum für Jobs interessieren, bei denen sie nur Knöpfe drücken. Er forderte, digitale Systeme menschlicher zu gestalten. Als weitere Herausforderung nannte Frank Lucaßen, Geschäftsführer der Fresenius Kabi Deutschland GmbH aus Bad Homburg, die Schaffung von einheitlichen regulatorischen Rahmenbedingungen. Das vom Krankenhausbetreiber Fresenius Helios entwickelte Portal „hello“ etwa, mit dem sich Patienten auf einen Klinikaufenthalt vorbereiten und auf Dokumente aus der Krankenakte zugreifen können, sei ein wundervolles Projekt, das den Menschen helfe, datenschutzrechtlich aber eine Herausforderung. Eine einheitliche nationale, geschweige denn eine europäische Regelung sei nicht in Sicht. Der Hessische Staatssekretär Mathias Samson, der ebenfalls als Diskussionsteilnehmer auf dem Podium saß, entgegnete, man prüfe Interessen und schaue, wo der regulatorische Rahmen anzupassen sei: „Das ist eine Daueraufgabe, mit der die Politik Innovationen begleitet.“
Positives Innovationsklima schaffen
Laut dem Innovationsbericht Mittelstand 2016, erstellt von der Förderbank KfW, hat sich die Zahl der innovativen Unternehmen in Deutschland in den vergangenen zwölf Jahren halbiert. Mit zahlreichen Programmen und Initiativen steuert die Hessische Landesregierung dem Negativtrend entgegen. Dass sich die Förderung dabei nicht auf eine monetäre Unterstützung beschränke, hatte Wirtschaftsminister Al-Wazir schon in seiner Eröffnungsansprache deutlich gemacht. Die Bereitstellung einer entsprechenden Infrastruktur, ausdrücklich erwähnte er den in Hessen voran getriebenen Breitbandausbau, sorgt ebenfalls für ein positives Innovationsklima.
Unter der neuen Dachmarke Technologieland Hessen, die Dr. Detlef Terzenbach, Projektleiter Innovationsunterstützung bei der Hessen Trade & Invest GmbH (HTAI), in seinem Vortrag vorstellte, unterstützt das Land Hessen alle Akteure im Innovationsprozess. Die Experten der HTAI haben Zugang zu mehr als 25.000 Ansprechpartnern in Wirtschaft, Wissenschaft, Beratung und Verwaltung. „Wir bringen Menschen und Technologien zusammen“, sagte Terzenbach, zum Beispiel auf Veranstaltungen wie den Innovation Lounges, die auch 2018 wieder stattfinden sollen. Hessen sei zudem das „Land der Cluster“. Das HTAI-Team betreut mehr als 40 Cluster in den verschiedensten Branchen vom Holzbau über die Logistik bis zur Informationstechnik.
Wie wichtig Kooperationen und Partnerschaften für den Innovationsprozess sind, wurde auch im Track „Vernetzt“ am Kongressnachmittag deutlich. Vertreter der Industrie- und Handelskammer Darmstadt, des Wetzlar Network und der Leica Camera AG berichteten aus der Praxis. Dr. Carsten Ott, Abteilungsleiter Technologie & Innovation bei der HTAI, stellte die Wirtschaftsförderung des Landes Hessen vor.
Im Track „Gestalten“, der parallel am Nachmittag stattfand, ging Dr. Jonathan Löffler, Geschäftsführer der Steinbeis 2i GmbH, ebenfalls auf die Bedeutung von Netzwerken ein und beleuchtete ihre Funktion in der Ideenfindung. „Innovationen entstehen an Grenzflächen, denn da ist viel Energie“, sagte er. Dem Steinbeis-Verbund, der weltweit im Wissens- und Technologietransfer aktiv ist, gehören über 1000 Unternehmen und 700 Professoren an.
Ist eine Idee gefunden, will sie umgesetzt werden, doch dafür braucht man Kapital. Auf der Suche nach Investoren kommen Startups ums „Pitchen“ kaum herum. Mit welchen Mitteln man die Kapitalgeber für sich gewinnt, erklärte Bianca Prätorius, Schauspielerin und Coach, am Kongressnachmittag im Track „Gestalten“. Da in den gängigen Pitch-Sessions mehrere Startups gegeneinander antreten, müssen sie mit ihren meist drei- bis fünfminütigen Präsentationen nicht nur die Investoren überzeugen, sondern vor allem auch die Konkurrenz abhängen. Am besten starte man, rät Prätorius, direkt mit dem Schmerz der Menschen, die das Produkt letztendlich kaufen sollen. Anschließend sollte man die Lösung liefern, und zwar ohne selbst allzu stark für die eigene Entwicklung zu schwärmen – das Staunen überlasse man besser den potenziellen Investoren. Und wer über Marktzahlen verfügt, sollte sie auf jeden Fall visuell aufbereiten, denn dafür interessieren sich die Geldgeber besonders. „Make love to your financial slides“, brachte es die Pitch-Trainerin auf den Punkt. Von Textfolien hingegen riet sie ab. Zwei linguistische Kanäle gleichzeitig anzusprechen, sei nicht zielführend.
Tatkräftige Unterstützung für Kreative und Fintechs
Im Gegensatz zu jenen Startups, die ausgefeilte Business-Pläne erarbeiten und auf Kapitalsuche gehen, bevor sie ihr Geschäft starten, wollen manche Kreative einfach loslegen. Für sie gibt es kaum einen besseren Ort als die im Sommer 2017 in Frankfurt gegründete Hightech-Werkstatt der Tatcraft GmbH. Fabian Winopal, einer der beiden Gründer, stellte das Konzept auf dem Innovationskongress vor. „Tatcraft ist ein Experiment“, sagte er, eine Community von findigen Machern, die auf 2000 Quadratmetern Zugang zu Profi- und Industrietools von der CNC-Fräse über 3D-Drucker bis zu Brennöfen und Nähmaschine haben. Mehr noch: Neben allen möglichen Industriemaschinen für die Holz-, Textil- und Metallverarbeitung steht den Nutzern ein Team aus Ingenieuren, Schreinern und anderen Fachleuten mit Rat und Tat zur Seite. „Unsere Infrastruktur ist für jeden zugänglich“, betonte Winopal. Was passiert, wenn man eine Idee, genug Platz und Zugang zu den notwendigen Maschinen hat, wird sich in den Hallen von Tatcraft bald zeigen. Die ersten Projekte stehen laut Winopal kurz vor dem Crowdfunding.
Ebenfalls in Frankfurt, auf zwei Etagen eines Hochhauses zwischen Hauptbahnhof und Messegelände, finden vor allem Fintechs eine Heimat: Das im Januar 2017 eröffnete TechQuartier ist eine Anlaufstelle für mittlerweile 90 Startups, von denen die Hälfte im Hochhaus eingemietet ist. „Wir möchten kollaborative Innovationen möglich machen und als Agenda-Setter antreiben“, erläuterte Dr. Thomas Funke, Co-Director des TechQuartiers, in seinem Vortrag. Aktionen und Events plane man immer zusammen mit Partnern, um die etablierte Industrie mit den Startups zusammenzubringen. Gemeinsam mit der Unternehmensberatung Ernst & Young und der Deutschen Börse wurde beispielsweise die EY Start-up Academy ins Leben gerufen, ein 12-wöchiges Programm, bei dem junge Unternehmen ihr Geschäftsmodell mit Hilfe von Industrieexperten optimieren. Insgesamt 27 Kooperationspartner bringen sich mittlerweile in das Netzwerk des TechQuartiers ein, darunter Finanzgrößen wie die Deutsche Bank, die Commerzbank, die Helaba und die Deutsche Börse.
Scheitern als Chance
Die vielen auf dem Innovationskongress präsentierten Erfolgsgeschichten sollten eins nicht vergessen lassen: Scheitern gehört zum Innovieren dazu wie das Hinfallen zum Laufenlernen. Dass es darauf ankommt, wie man mit Fehltritten umgeht, erläuterte Daniel Putsche, Geschäftsführer der Frankfurter Candylabs GmbH, in seinem Impulsvortrag. Geschichten vom Scheitern kann Putsche reichlich erzählen, denn zweimal jährlich organisiert er die Frankfurter Fuckup-Nights, während der jeweils vier Sprecher vom persönlichen Versagen erzählen. FDP-Politiker Christian Lindner beispielsweise berichtete dort von seinem Scheitern als Unternehmer. Ein anderer Referent schilderte, wie sein Betrieb pleiteging, seine Ehe zerbrach, er in die Privatinsolvenz und schließlich in die Obdachlosigkeit rutschte – und wie er nach Monaten wieder auf die Beine kam und ein neues Unternehmen gründete. „Das ist Fehlerkultur“, unterstrich Putsche, der allerdings einräumte, dass er persönlich aus dem Scheitern der anderen kaum etwas gelernt habe.
Aus eigenen Fehlern hingegen können Unternehmen und Organisationen viel lernen. Das erklärte Putsche am Beispiel des Flugverkehrs und des Gesundheitssystems. In Sachen Fehlerkultur ist die Luftfahrtbranche ein Positivbeispiel: Obwohl die Zahl der Passagiere in den vergangenen Jahren deutlich zunahm, sank die Zahl der Todesfälle infolge von Unfällen. Der Grund: Im Luftfahrtsektor spricht man nicht nur transparent über Fehler, sondern wertet sie penibel aus – nach einem Absturz etwa mit Hilfe des Flugschreibers – und reagiert umgehend mit Prozessänderungen. Mit speziellen Trainingsprogrammen beugen die Airlines zudem Fehlern durch menschliches Versagen vor. Ganz anders sieht es im Gesundheitssektor aus, zu dem Putsche alarmierende Zahlen nannte: Allein in den USA liege die Zahl der vermeidbaren Todesfälle bei 90.000 jährlich, die Dunkelziffer werde auf 400.000 geschätzt. So viele Leute kämen ums Leben, wenn täglich zwei Jumbojets abstürzten, rechnet Putsche vor. Sein Fazit: „Unternehmen von morgen reden nicht nur über ihre Fehler, sondern verbessern ihre Strategie aufgrund von Fehlern.“
Abschied vom Silicon-Valley-Mythos
Dass das Verhältnis zum Scheitern kulturell bedingt ist, hatte Dirck Bartels, Innovationsmanager bei der thyssenkrupp AG, als Teilnehmer der Podiumsdiskussion schon am Vormittag erwähnt: Als seine Kollegen aus den USA jemanden für eine Projektleitung vorschlugen, der gerade erst ein Projekt gegen die Wand gefahren hatte, zeigte sich Bartels skeptisch – während die Amerikaner darauf vertrauten, dass der Gescheiterte aus seinen Fehlern gelernt habe und es jetzt sicher besser machen werde. „In Deutschland sieht man eher die Risiken als die Chancen“, sagte Bartels. Dennoch empfahl er, nicht immer über den großen Teich zu schauen: „Wir müssen unseren eigenen Weg finden.“ US-Unternehmen verfügten zwar über viel Knowhow in puncto Umsetzung, deutsche Firmen aber überzeugten mit ihrer ausgeprägten Technologiekompetenz. Man müsse aufpassen, ergänzte er, dass deutsche Startups nicht in die USA abwandern, weil es hierzulande an Risikokapital fehle.
Auch Trendforscher Horx hatte in seiner Keynote den „European Way of Innovation“ und den Verzicht auf die Holzhammermethode gelobt. Er forderte sogar den Abschied vom Silicon-Valley-Mythos: „Sollen wir uns etwa schämen, dass wir kein Google, Facebook und Co haben?“ fragte er in die Runde und verwies auf den Einfluss der sozialen Medien auf unsere Psyche, auf den digitalen Exhibitionismus und darauf, dass die Zunahme an Information mit einer Abnahme an Wissen einhergehe. Das mag bedrohlich klingen, aber Horx schürte keine Panik. „Jeder Trend erzeugt einen Gegentrend“, behauptete er, und jedes neue Medium führe auf den Kern des alten zurück. Dass das Digitale das Analoge nicht erübrigt, belegte er mit mehreren Beispielen: Amazon eröffnet jetzt Buchläden; Füllfederhalter und edles Papier erleben eine Renaissance; Polaroid-Kameras und sogar die Schallplatte kehren zurück. In Zeiten der Digitalisierung scheint der Mensch halt in Dingen zum Anfassen zu suchen.
Hightech und Hightouch verbinden
Es stellt sich also die Frage, welche Innovationen wir wirklich brauchen. Welche Technologien lösen die Herausforderungen der Zukunft und behalten dabei unser Wohlbefinden im Blick? Horx bezeichnet Neuentwicklungen, die auf die wahren Bedürfnisse des Menschen reagieren, als responsive Innovationen. Hightech/Hightouch lautet das Schlagwort, wobei Hightouch für eine Art persönliche Note steht. In diese Innovationskategorie fallen zum Beispiel die Heim-Solarstromspeicher und das damit aufgebaute Stromnetz des bayrischen Herstellers Sonnen. Dass solche Innovationen wichtiger denn je sind, machte auch Amir Roughani, Gründer und CEO der Vispiron Engineering GmbH aus München, in seiner Abschluss-Keynote deutlich. Der Ölverbrauch in den USA liege bei umgerechnet zehn Litern Öl täglich pro Kopf, in China seien es 1,5 und in Indien nur 0,5 Liter, sagte er: „Wenn die Bevölkerung Asiens unser Niveau erreicht, bekommen wir ein Riesenproblem – hier liegt die Herausforderung.“
Ein Wandel ist nötig und Roughani hatte dafür eine Formel parat: Veränderung ist für ihn das Produkt aus einer Vision, einem Plan sowie dem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die Erreichbarkeit des Ziels. Vispiron hat zum Beispiel mobile Solaranlagen entworfen, um die weit verbreiteten mobilen Dieselgeneratoren zu ersetzen. Auch umweltfreundliche Mobilitätskonzepte gehören zum Portfolio: Unternehmen, die eigene Fahrzeugflotten betreiben, bietet Vispiron einen E-Mobility-Check an. Mit ihm können Firmen prüfen, ob sie ihr Geschäft auch mit Elektroautos betreiben könnten. Vispirons Software zum Flottenmanagement hilft zudem bei der Optimierung der Fuhrparkauslastung – so lassen sich etliche Fahrzeuge einsparen. Die Zukunft vieler Unternehmen sieht Roughani nicht mehr im Verkauf von Produkten, sondern in der Begleitung von Prozessen. Umsatz mit Software statt mit Hardware lautet das Motto.
Disruption ist nichts Neues
Horx hatte seinen Vortrag damit eingeleitet, dass Innovationen keine Erscheinung unserer Zeit sind. Roughani schloss den Kreis mit den Worten: „Disruption ist nichts Neues.“ Zur Verdeutlichung zeigte er zwei Fotos von der 5th Avenue in New York, das erste aufgenommen im Jahr 1900, das zweite 13 Jahre später. Auf dem ersten Bild sieht man nahezu ausschließlich Pferdekutschen, auf dem zweiten nur noch Autos. Ohne Frage hat es Innovationen und disruptive Technologien, die bestehende Produkte oder Dienstleistungen nahezu komplett verdrängen, schon immer gegeben – aber die Kurve des exponentiellen Wachstums von Innovationen verläuft zusehends steiler, die Zeitabstände werden kürzer, Preise für Neuentwicklungen sinken dramatisch. Letzteres belegte Roughani anhand des autonomen Fahrens und der dafür erforderlichen LIDAR-Sensoren, die Abstände und Geschwindigkeiten per Lasersignal messen: Im Jahr 2012 kostete ein solcher Sensor 70.000 US-Dollar, ein Jahr später waren es nur noch 10.000 Dollar, mittlerweile liegt der Preis bei rund 250 Dollar.
Angesichts des rasanten Wandels spielen Startups, aber auch Hochschulen und andere Forschungseinrichtungen eine entscheidende Rolle für die Innovationskraft eines Landes. Fresenius-Kabi-Manager Lucaßen hatte schon in der Podiumsdiskussion angemerkt, dass große Konzerne quasi mit Tempo 200 über die Autobahn rasen: „Wir können nicht plötzlich anhalten zum Reifenwechsel.“ Oft sind es daher die eher kleinen, jungen Unternehmen, die den Weg weisen. Tesla habe eine Vision vorgegeben, sagte Lucaßen. Jetzt folgen die etablierten Autobauer.
Nanoklettverschlüsse, Drohnen und mehr
In der kongressbegleitenden Ausstellung präsentierten sich viele junge visionäre Unternehmen, von denen hier nur einige erwähnt werden können. Die ALCAN Systems GmbH, eine Ausgründung der Technischen Universität Darmstadt, etwa hat Satellitenantennen entworfen, die sich dank Flüssigkristallen automatisch in Richtung des Satelliten ausrichten und so immer besten Empfang garantieren. Ebenfalls an der TU Darmstadt entstand die Idee zu einem Nanoklettverschluss: Die NanoWired GmbH revolutioniert die Verbindungstechnik und will zum Beispiel Mikrochips und Sensoren in Handys festkletten statt sie zu kleben oder zu löten. Ein Team der Universität Gießen wiederum hat ein Wasserdesinfektionssystem entworfen, das einfach auf eine Wasserflasche geschraubt wird und Keime per LED-Lichtbehandlung tötet. Am Stand von Wingcopter aus Darmstadt informierten sich die Besucher über Drohnen und bei der Van Hees GmbH über vegane Wurst aus Pilzbiomasse. Mehrere Aussteller präsentierten spezielle Innovationen zur Optimierung industrieller Prozesse: Energie und Druckluft sparen Unternehmen zum Beispiel mit den neuartigen Saug-Hebevorrichtungen der eta/opt GmbH aus Kassel. Viele Aussteller präsentierten ihre Ideen und Produkte nicht nur an ihrem Stand, sondern auch im Speaker’s Corner. Das Coaching Café und das Partnering wurden ebenfalls gut angenommen.
Und wer selbst innovativ sein wollte, versuchte sich am einarmigen Banditen, der Glücksspielmaschine des Technologielandes Hessen. Die Kiste spuckte jeweils drei Begriffe aus, zum Beispiel Materialtechnologie/Globalisierung/Ernährung, auf deren Basis sich der Spieler eine Innovation einfallen lassen sollte. Da kamen einige Ideen zusammen – von Mini-Drohnen zur Bestäubung von Obstplantagen bis zur Mikroelektronik, die sich durch die Bewegung von Materie selbst auflädt.
Am Ende des äußerst kurzweiligen Kongresstages, der bei Live-Musik, Snacks und Drinks langsam ausklang, ging es den meisten Besuchern wohl so wie HTAI-Geschäftsführer Dr. Rainer Waldschmidt: „Mir raucht der Kopf“, sagte er, freute sich über den enormen Erfolg der Veranstaltung und lud zur nächsten ein: Der zweite Hessische Innovationskongress findet am 15. November 2018 statt.